Seit einiger Zeit ist der Begriff «Headless E-Commerce» in aller Munde. Auf den ersten Blick klingt es ein bisschen radikal und nicht vertrauenswürdig, den Kopf zu verlieren. Doch was hat dieses neue Buzzword auf sich? Erwartet uns wirklich eine kopflose Zukunft im E-Commerce? Für welche Unternehmen lohnt es sich, ein kopfloses Shop-System in Betracht zu ziehen? Was sind die Schwierigkeiten? Wir klären auf.
Herausforderungen für Unternehmen im E-Commerce
Die E-Commerce-Welt hat in den letzten Jahren nicht nur einen globalen Boom erlebt, sondern sie hat sich dabei auch sehr stark verändert. Dieser Wandel wird sich auch in der Zukunft fortsetzen. Wir bewegen uns hin zu einem noch dynamischeren Onlinehandel, bei dem die Komplexität der genutzten Technologien und Systeme deutlich ansteigen wird. Wir haben die Omnichannel-Ära erreicht, wobei die Unternehmen gefordert sind, eine Grosszahl an Kanälen und Geräten gleichzeitig zu managen. Es wird erwartet, dass in den nächsten Jahren weitere Touchpoints wie beispielsweise virtuelle Assistenten (Amazon Alexa), Smartwatches, IoT Devices, Online-Marktplätze, Virtual & Augmented Reality oder B2B-Bestellportale an Relevanz gewinnen.
Die steigende Anzahl an Touchpoints führt dazu, dass die Verwaltung und Betreuung zugrundeliegender Systeme immer komplizierter und aufwändiger werden. Viele der genutzten und noch wachsenden Kanäle sind noch nicht standardisiert oder können dies aufgrund der individuellen Anforderungen nie sein. Trotz diesen Herausforderungen müssen die Unternehmen im digitalen Handel den Kundinnen und Kunden ein einzigartiges und konsistentes Einkaufserlebnis über alle Touchpoints anbieten, um sich gegenüber der wachsenden Konkurrenz durchsetzen und auch in Zukunft erfolgreich sein zu können. Diese Entwicklung stellt vor allem die IT-Infrastruktur der Unternehmen auf die Probe, da es für so ein komplexes Umfeld noch keine Fertiglösung gibt.
Was bedeutet Headless E-Commerce?
«Headless» ist ein Begriff, der die verwendete Softwarearchitektur beschreibt. Um den Headless E-Commerce-Ansatz verstehen zu können, muss man zuerst die normale Systemarchitektur mit dem vorhandenen Kopf verstehen.
Konventionelle Softwares verfügen über ein Backend (Daten und Funktionen) und Frontend (Nutzeroberfläche = Kopf) sowie eine Applikationsebene. Um weitere nötige Drittsysteme wie zum Beispiel ein Produktinformationssystem (PIM) oder ein ERP anbinden zu können, braucht es Konnektoren, welche den Datenaustausch zwischen den beiden Bereichen herstellen. Für diesen Prozess werden APIs als standardisierte Programmierschnittstellen eingesetzt. Bei traditionellen Onlineshop-Systemen ist das Backend immer fest mit dem Kopf, dem Frontend verknüpft.
Beim Headless E-Commerce, der auch als entkoppelte Architektur bezeichnet wird, handelt sich um einen neuen Architekturansatz, bei dem das Backend und das Frontend komplett voneinander getrennt sind. Somit verliert das System seinen «Kopf». Die beiden Bereiche kommunizieren untereinander ausschliesslich über standardisierte Schnittstellen (APIs). Das Shop-Backend liefert Daten und Funktionen einfach über die Schnittstellen an unterschiedliche Frontends und Geräte. Während bei einem Onlineshop das Hauptsystem natürlich die E-Commerce-Plattform ist, ist die Bereitstellung von sauberen und vollständigen APIs das wichtigste Feature, welches den Headless E-Commerce ermöglicht. Einige E-Commerce-Plattformen bieten inzwischen brauchbare APIs an, um den Headless-Ansatz umzusetzen. Dazu gehören sogar klassische Systeme wie Magento in der Version 2. Das User Interface stellt beim Headless E-Commerce ein eigenständiges System dar, welches mit beliebigen Technologien entwickelt werden kann. Die Produktanzeige oder der Bestellprozess werden unabhängig von der E-Commerce-Plattform umgesetzt.
Was sind die Vorteile von Headless E-Commerce?
Die Entkoppelung des Frontends vom Backend in der Systemarchitektur und die Nutzung von intelligenten APIs bietet den Onlinehändlern einige bemerkenswerte Vorteile, mit denen die neuen Anforderungen im E-Commerce gelöst werden können.
Mehr Flexibilität
Der grosse Vorteil von Headless E-Commerce ist die Flexibilität, die man als Shopbetreiber erhält. Die Trennung des Kopfes (Frontend) von der E-Commerce-Plattform (Backend) beseitigt alle einschränkenden Abhängigkeiten, wodurch die beiden Systemteile unabhängig voneinander verändert und weiterentwickelt werden können. Somit können spezialisierte Technologien implementiert werden, ohne von den Kompatibilitätsanforderungen der gewählten E-Commerce-Plattform limitiert zu werden. Dies schafft vor allem den UX-Designerinnen und -Designern den Raum, ihre Ideen und Konzepte frei zu gestalten und sich nur auf das Userinterface und dessen Mehrwert zu konzentrieren, wodurch eine innovative Art der Usability möglich wird.
Mit der steigenden Zahl an Touchpoints stösst die traditionelle Softwarearchitektur langsam an ihre Grenzen. Die Headless-Lösung ermöglicht über eine intelligente API die einfachere Integration von Drittsystemen. Die Softwareingenieurinnen und -ingenieure können sich dabei komplett auf die Entwicklung konzentrieren und müssen sich nicht mit der Darstellung der Inhalte beschäftigen. Die Inhalte können zentral aus dem Backend für das Ausspielen auf jedem Device bereitgestellt und optimiert dargestellt werden. Dieser Ansatz ermöglicht es, schnell und flexibel Innovationen umzusetzen. Mit einem Headless-Onlineshop kann also effizient und flexibel auf die Bedürfnisse des Marktes und der Nutzerinnen und Nutzer eingegangen werden.
Auch beim Hosting der Webseite ermöglicht die kopflose Variante eine höhere Flexibilität, da die Frontends statisch ausgeliefert werden (z. B. über ein Content Delivery Network), während die E–Commerce-Plattform selbst auf einem «richtigen» Server betrieben wird.
Geschwindigkeit
Dank der separaten Anzeigelogik arbeitet das Headlesss-System performant, kann schneller reagieren und ermöglicht eine einfachere Wartung und Aktualisierung. Durch den modularen und flexiblen Aufbau können Inhalte wiederverwendbar gemacht werden und sind unabhängig vom Kanal nutzbar. Dies spart Zeit und ermöglicht eine effektive Erstellung von Inhalten. Das Frontend kann jederzeit angepasst werden, ohne dass das Backend-System komplett neu aufgesetzt werden muss. Die skalierbare und entkoppelte Auslieferung von Inhalten bietet eine einfache und optimale Anpassung an neue Geräte und Technologien. Durch kanalangepasstes Ausspielen von Inhalten kann beim Headless-Ansatz die Time-to-Market reduziert werden. Der Onlinehändler kann rasch auf die Marktveränderungen reagieren, neue Produkte und Trends austesten.
Mehr Anpassung und Personalisierung
Die Trennung von Backend und Frontend ermöglicht, das Shopping-Erlebnis auf allen Kanälen viel individueller zu gestalten. Je nach Besucherverhalten können weitere Technologien über APIs angebunden werden, ohne auf allen Seiten zu erscheinen und dadurch die Ladezeit zu beeinflussen. Somit können die Kundinnen und Kunden reibungslos und personalisiert durch den Bestellprozess geführt werden.
Nachteile von Headless E-Commerce
Neben den aufgezählten Vorteilen bringt der Headless-Ansatz auch seine Schwierigkeiten oder Herausforderungen mit sich, die man unbedingt kritisch betrachten muss. Die Nachteile von headless sind oft direkt mit den Vorteilen verbunden.
Mehr Ressourcen und Aufwand durch fehlende Standardisierung
Die Systemlandschaft von Headless E-Commerce besteht aus deutlich mehr Komponenten im Vergleich zu konventionellen, monolithischen Systemen. Zudem sind für klassische E-Commmerce-Plattformen bereits Templates und Funktionen vorhanden, was Ressourcen spart. Der Aufbau von einem kopflosen Onlineshop gleicht hingegen einem Baukastensystem, bei dem man alle Teile einzeln entwickeln und zusammensetzen muss. Um den Anspruch, einzigartige und individuelle Kundenerlebnisse zu schaffen, zu erfüllen, müssen mehrere Technologien, Server, unterschiedliche Konzepte verwendet werden. Da es gleichzeitig mehre Entwicklungsprojekte gibt, sind auch mehr Ressourcen erforderlich, um die zusätzliche Arbeitsbelastung bewältigen zu können. Es müssen getrennte Entwicklungsteams für das Backend und das Frontend geschaffen und geleitet werden, welche die jeweiligen Technologien beherrschen.
Höhere Kosten
Durch den oben erwähnten Mehraufwand aufgrund fehlender Standardisierung sind die Totalkosten bei einem Headless-Onlineshop wesentlich höher als bei konventionellen Plattformen. Jeder Bereich braucht ein individuelles Hosting und Management. Je mehr Technologien man einsetzen möchte, desto höher werden die Projekt- und Lizenzkosten sein. Zwar können Sie diese Kosten durch Open-Source-Technologien reduzieren, allerdings steigt dadurch die technologische Komplexität weiter an.
Höhere Anforderungen an Organisation und Projektmanagement
Aufgrund der erhöhten Komplexität der Systemlandschaft setzt der Headless-Ansatz nicht nur mehr Ressourcen, sondern auch ein vertieftes Know-how und ausreichende Projektmanagement-Erfahrung voraus. Im Vergleich zu klassischen E-Commerce-Projekten sind bei Headless-Projektsetups mehrere Dienstleistende eingebunden. Mehrere Systeme und mehr Stakeholder bedeuten mehr Koordination und Abstimmung und schlussendlich mehr Kosten. Bei Problemen und Ausfällen müssen alle beteiligten Projektpartner schnell verfügbar sein, um möglichst schnell eine Lösung zu finden, damit keine Umsatzeinbussen und Systemausfälle entstehen.
Für welche Unternehmen eignet sich Headless E-Commerce?
Die Entkoppelung von Frontend und Backend eröffnet den Onlinehändlern die Tür zu unzähligen Möglichkeiten, um das Kundenerlebnis individuell zu gestalten und schnell auf Trends zu reagieren. Der Headless E-Commerce ist dann empfehlenswert, wenn eine hohe Flexibilität gewünscht ist und viele unterschiedliche Kanäle bespielt werden sollen. Der Content kann dabei nur einmal erstellt und von einem zentralen System auf unterschiedliche Touchpoints publiziert werden.
Doch genau diese Flexibilität, welche den kopflosen Ansatz so mächtig macht, stellt auch das Hauptproblem dar. Die zusätzliche Freiheit bringt eine höhere Komplexität mit sich. Die Unternehmen müssen sich die Frage stellen, ob die Vorteile der Flexibilität die zusätzlichen Aufwände und Kosten rechtfertigen. Dafür müssen verschiedene Faktoren wie die Grösse des Zielmarktes, die Touchpoints, welche bespielt werden müssen sowie die weiteren Systeme wie CMS, CRM, PIM, DAM, Newsletter-Tool usw. identifiziert werden. Je heterogener die Frontend-Landschaft ist, je mehr Kanäle bespielt und Drittsysteme integriert werden müssen, desto mehr lassen sich die Stärken einer Headless-Architektur mit dem API-First-Ansatz ausspielen. Wer auf eine exzellente User Experience auf unterschiedlichen Endgeräten setzen möchte und die nötigen Ressourcen, das Know-how sowie genug Projekterfahrung und organisatorische Reife hat, sollte die Headless-Lösung in Erwägung ziehen.
Die Headless-Variante ist hingegen für Unternehmen wahrscheinlich die falsche Wahl, welche einen soliden Onlineshop suchen, der unkompliziert laufen soll und keinen hohen Ressourcen- und Kostenaufwand verursacht. Bei klassischen E-Commerce-Systemen gibt es eine Vielzahl an Möglichkeiten auf standardisierte Frameworks zurückzugreifen und immer wiederkehrende Funktionen somit nicht neu entwickeln zu müssen.
Fazit: Nicht kopflos entscheiden
Ein headless geführter Onlineshop bietet wichtige wettbewerbsrelevante Vorteile in der Omnichannel-Ära, erhöht aber im Gegenzug die technologische Komplexität und die Kosten beträchtlich. Ohne die nötigen IT-Ressourcen sind Headless-Onlineshops nicht umzusetzen. Denn stimmen die Voraussetzungen und die Anforderungen dafür nicht, ist selbst das beste Headless-System keine effiziente Lösung.
Wie jede digitale Transformation ist auch der Headless-Ansatz keine schnelle Entscheidung, die von heute auf morgen gefällt werden kann. Vor einer Einführung sollten sich die Unternehmen die Frage stellen, ob eine Headless-Systemarchitektur unbedingt erforderlich ist, um die Kundenbedürfnisse angemessen erfüllen zu können. Dazu muss eine realistische Evaluation der verfügbaren Ressourcen, des technischen Know-hows und der organisatorischen Reife im Unternehmen durchgeführt werden. Die Wahl der Headless-Variante ohne zwingende Anforderungen hat unnötig hohe Implementierungs- und Betriebskosten zur Folge. Denn in vielen Fällen reicht eine moderne E-Commerce-Systemarchitektur mit klassischen Shop- oder Portalfunktionen vollkommen aus.